Seitdem die Kirchen für Konzerte zur Verfügung stehen, nutzen viele Kleinstätte und Dörfer sie für grosse Musikensembles.
Vorher war dies auch in Stavelot, trotz mehrerer Festsäle unmöglich. Diese Tatsache ist auch der Grund, weshalb Octave Micha, der Vater von Raymond, seine Konzerte ab 1916 der Kammermusik vorbehalten hatte. Sie trugen seinen Namen bis zur Gründung des Festivals. Vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs hatten mehr als 60 Micha-Konerte stattgefunden, wo bekannte Interpreten aus Lüttich, Verviers oder Spa auftraten, sowie auch seine Freunde Joseph Jongen, Jean Rogister oder Léon Van Hout, die über eine Zweitwohnung in der Region verfügten. Aufgeführt wurden die grossen Musikkompositionen und Stücke aus dem belgischen Repertoire, aber auch zeitgenössische Musik. Zu hören war in diesem Zusammenhang das Quartett Maurice Ravel, das Quartett Claude Debussy, ausgeführt von dem herausragenden Bratschisten Léon Van Hout, Mitglied des Ysaye-Quartetts !
1939 hat Octave Micha mit einigen Freunden den Violin-Wettbewerb “ Preis François Prume” ins Leben gerufen, zu Ehren des grossen Geigenspielers aus Stavelot, der 1849 verstorben ist. François Prume war Mitglied des damaligen Kreises auserkorener Violinvirtuosen – er spielte mit Liszt und Mendelsohn – der die belgische Violinschule weltweit bekannt gemacht hat (Einige Töne anhören). Der 1. Preis ging mit allen Ehren an Arthur Grumiaux. Wegen des Ausbruchs des 2. Weltkriegs konnte keine weitere Auflage erfolgen.
Octave Micha und seine Freunde liessen sich jedoch nicht entmutigen und beschlossen, als Folge des Wettbewerbs, den Kunstkreis François Prume zu gründen. Dieser umfasste sowohl die Micha-Konzerte als auch Ausstellungen, Voträge und Musik- oder Malunterricht. Leider wurden die mühsam erworbenen Utensilien während der Ardennenoffensive 1944 gänzlich zerstrört und die leidigen und brutalen Kriegswehen haben ab sofort alle künstlerischen Projekte zunichte gemacht. Der Kunstkreis François Prume konnte nur noch sporadisch ativ werden und Octave Micha konnte erst nach Kriegsende erneut einige Konzerte auf die Beine bringen, bis der Tod ihn 1956 aus dem Leben riss.
Raymond Micha erinnert sich wie folgt an diese Zeit: “Bei einem Spaziergang 1931 mit meinem Vater 1931 sagte er mir mit fester Überzeugung, dass Sonaten und Quartetts eines Tages erneut in den Festsälen unserer Stadt erklingen würden, weil die Kammermusik wie selbstverständlich zu unserer Abtei gehört. Dann würde Stavelot eine echte Festivalstadt.”
Und tatsächlich, heute ertönt die Kammermusik wie nie zuvor im Herzen der Abtei. Wenn zu Octave Micha’s Zeiten, vor hundert Jahren, nur wenige Zuhörer anwesend waren, werden die Klänge heutzutage von den grössten belgischen und ausländischen Interpreten im Rahmen eines internationalen Festivals für eine zahlreiche Hörerschaft dargeboten.
Wenn auch das künstlerische Schaffen während der ersten Nachkriegsjahre auf Sparflamme lebte, hat die zweite Auflage des Violinwettbewerbs François Prume, 1949, wie eine neue Zündung auf das Kulturleben der Stadt gewirkt. Nach Arthur Grumiaux 1939 war Marcel Debot der Preisträger des Wettbewerbs, der ein breites internationales Publikum anzog. Im Vergleich zur ersten Auflage 1939, die unter den Kriegswehen gelitten hatte, konnte dieser zweite Versuch die Reputation der Kulturstadt Stavelot definitiv festigen, auch Dank des Echos in Presse und Rundfunk. Zu einer dritten und letzten Auflage kam es 1951 mit André Cauvin als Laureaten.
Nach dem Tod von Octave Micha 1956 haben seine Freunde und Mitarbeiter zu seinen Ehren 1957 eine eindrucksvolle Musikwoche in der Abtei organisiert. Sein Sohn Raymond Micha konnte auf die Erfahrung seines guten Freundes Marcel Hastir, Direktor des Musikateliers Brüssel bauen, um zum ersten Mal in Stavelot eine Folge von 7 Abendkonzerten vorstellen zu können. Nach diesem Erfolg wurde die Gründung des Festivals von Stavelot offiziell angekündigt.
Das Festival stand seit Beginn unter einem guten Stern: im aussergewöhnlichen Rahmen der Abtei und mit einer Gruppe treuer Freude, die Erfahrung bei der Organisation von Konzerten hatte, konnte das Festival nur zum Erfolg werden und zum musikalischen Sommerevent schlechthin.
Die Gründung des Festivals der Wallonie 1971 hat dem Festival von Stavelot zusätzlichen Elan gegeben. Diese Dachorganisation umfasst die bedeutendsten Veranstaltungen klassischer Musik in der Wallonie, wie das Festival von Lüttich und das Festival von St. Hubert.